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Foto (privat)

Gott und die Tränen

04.11.2022 Pater Dr. Martin Leitgöb in der Reihe „Wort zum Sonntag“

Über dem November liegt ein sanfter Schleier von Traurigkeit. Kirchlich ist dieser Monat vom katholischen Gedenktag Allerseelen und vom evangelischen Totensonntag eingerahmt. Außerdem wird im November der Volkstrauertag begangen, der den Opfern von Gewalt und Krieg gewidmet ist. Aber nicht nur diese Tage, sondern auch die spätherbstliche Witterung, die absterbende Natur und die frühere abendliche Dämmerung fördern bei manchen Menschen eine traurige oder wehmütige Stimmung.
Viele Menschen denken im November intensiver an ihre verstorbenen Angehörigen als zu anderen Jahreszeiten. Oft ist es zum Weinen, wenn wir unsere Toten betrauern. Manchmal weint unsere Seele bloß still in sich hinein. Manchmal verschaffen sich die Tränen aber auch freien Lauf. Was wird aus all den Tränen, die auf dieser Erde geweint werden? Was wird aus den Tränen, die Menschen ihren viel zu früh verstorbenen Angehörigen nachweinen, oder Geliebte ihren Geliebten, oder Eltern ihren Sternenkindern, oder Mütter und Ehefrauen den gefallenen Soldaten? Was wird aus den Tränen, die über den Verlust von Heimat, Wohlstand, Sicherheit oder Gesundheit vergossen werden? Was wird aus den Tränen, die der Hunger oder Naturkatastrophen Menschen in die Augen treibt? Oder was wird aus Tränen, die durch seelische Verwundungen ausgelöst werden?
Im biblischen Buch der Psalmen findet sich ein trostvoller Satz. Ein betender Mensch sagt zu Gott: „Sammle meine Tränen in einem Krug“ (Ps 56,9). Menschliche Tränen sind nicht verloren. Gott möge sie sorgsam bergen. Er möge sie sich zu eigen machen. Manche werden vielleicht sagen: Das ist ja bloß ein frommer Glaube. Ich sage: So fromm möchte ich sein, um dies fest zu glauben und mich der Tränen nicht zu schämen.